Harveys Neue Augen

Harveys Neue Augen

(Daedalic, Rondomedia)

geschrieben von Anna Okel

 

     
 

Seit Kurzem erobert das Point-&-Click-Adventure "Harveys Neue Augen" den Spielemarkt. Der Nachfolger des preisgekrönten Abenteuers "Edna bricht aus" stammt ebenfalls aus der Feder von Jan Müller-Michaelis und klingt vielversprechend. Ob der Titel an den Erfolg anknüpfen kann und was es mit den "Neuen Augen" auf sich hat, erfahrt ihr im Folgenden.

Das bravste Mädchen der Welt

Die Klosterschülerin Lilli ist brav und pflichtbewusst. Sie kennt alle Regeln der Schule und befolgt diese ohne Widerrede. Auch bei der Erledigung ihrer Aufgaben ist sie sehr gewissenhaft. Egal wie ungerecht oder anstrengend die auferlegten Anweisungen sein mögen, Lilli lässt sich keine Unsicherheiten anmerken. So viel Mühe sie sich auch geben mag, geschickt ist sie bei den Erledigungen eher nicht. Das bekommt sie von der Leiterin der Schule mehr als oft zu hören. Die Oberin Ignatz ist eine sehr boshafte sowie strenge Person, die ihrem Ärger gerne Luft macht. Ständig scheucht sie das kleine Mädchen von einer Aufgabe zur anderen, um ihr anschließend doch wieder ihren Unmut deutlich zu machen. Nie ist sie zufrieden mit dem, was Lilli tut und lässt sie das jedes Mal spüren. Lilli würde es jedoch nie wagen, Widerworte zu geben. Jeglichen Frust und Ärger schluckt sie einfach herunter. Alles, was grausam und frustrierend ist,, ignoriert sie einfach. Wenn doch etwas Schlimmes in ihrer Umgebung geschieht, tauchen die Zensurgnome auf, um ihr zu Hilfe zu eilen. Die kartoffelförmigen Wesen streichen alles rosa an, was Lilli zusetzen könnte. Ob diese Wesen echt sind oder nur der Fantasie der Schülerin entspringen, bleibt unklar.

Die Oberin setzt alles daran, ihre Vorschriften durchzusetzen. Spaß und Freude duldet sie nicht. Strafen verhängt sie allerdings sehr gern. Sie ist unzufrieden mit den Zuständen im Kloster und der festen Überzeugung, dass die Schüler mehr Gehorsam lernen müssen. Aus diesem Grund lädt sie den renommierten Kinderpsychologen Doktor Horatio Marcel ein, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt. Dieser hat eine neue Methode zur Charakterkorrektur entwickelt, die im Kloster Anwendung finden soll. Die Oberin meint, dass ein Kind diese Aufmerksamkeit besonders nötig hat. Aus diesem Anlass verhängt sie besonders strenge Auflagen und verbietet den Schülern sogar, draußen zu spielen, solange sie die Ankunft des Doktors erwartet. Aufgrund ihres Pflichtbewusstseins gegenüber der Oberin hat Lilli kaum Kontakt zu ihren Mitschülern. Einige vertreten die Ansicht, dass sie am Unmut von Oberin Ignatz Schuld sei. Sie schreiben Lilli die mysteriösen Unfälle zu, da diese aufzutreten scheinen, seit das Mädchen die Schule besucht. Nur mit Edna, die bereits aus dem Titel "Edna bricht aus" bekannt ist, pflegt Lilli regen Kontakt, denn sie ist ihre beste Freundin und kümmert sich um sie. Allerdings hat Edna bereits ihre Erfahrungen mit Doktor Marcel gesammelt und gerät sofort in Panik, als sie von dessen bevorstehender Ankunft erfährt. Als Edna spurlos verschwindet, beschließt Lilli, sie zu suchen.

Aufgaben und Regeln

Zu Beginn des Spiels weist ein Erzähler den Spieler in die Geschichte ein. Durch seine amüsante und skurrile Art gestaltet er den Weg ins Spiel reizvoll und spannend, auch wenn seine Aussagen abwegig klingen. Lilli befindet sich am Schulteich und harkt das Laub vom Weg. Schon bald erscheint Oberin Ignatz am Fenster und demonstriert ihre strenge Art, indem sie Lilli das Singen während der Arbeit verbietet. Anschließend erscheint das Tutorial-Fenster. Eine Figur erklärt, welche Gefahren sorgloses Spielen mit sich bringen kann und bietet dem Spieler das Tutorial an. Es ist empfehlenswert, diese Funktion zu nutzen, denn hier werden nicht nur die hauptsächlichen Spielmechanismen erklärt, sondern auch einige Tipps wiedergegeben. Die Steuerung gestaltet sich sehr simpel und entspricht einem klassischen Point-&-Click-Adventure. Zur Bedienung ist lediglich die Maus von Bedeutung, die mit einem intelligenten Zeiger ausgestattet ist. Fährt man mit der Maus über einen Gegenstand, wird der Zeiger mit Symbolen markiert, wie beispielsweise einem Auge oder einer Sprechblase. Diese Symbole stellen die Interaktionsmöglichkeiten dar. In einem Inventar werden alle Gegenstände abgelegt, die Lilli einsammelt, so dass man sie im weiteren Spielverlauf verwenden kann. Wenn man sich in einem Gespräch befindet, wird aus dem Inventar eine Auswahl an Gesprächsthemen. Beendet man die Konversation, wird es in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Besonders nützlich ist das Betätigen der Leertaste. Dem Spieler werden so die Hotspots angezeigt. So weiß der Spieler, welche Möglichkeiten auf dem Schauplatz zur Verfügung stehen.

Der Spieler wird in seiner Freiheit von Lilli immer wieder eingeschränkt, da sie ihren Aufgaben nachkommen will. Vor allem ist es unmöglich, sie grundlos dazu zu bewegen, eine Regel zu brechen. Die Aktion wird von ihr mit einem Kopfschütteln abgewunken. Manchmal bringt sie ihre weniger gewissenhaften Mitschüler dazu, unüberlegt zu handeln, indem sie penetrant die Regeln des Klosters rezitiert und betont, welche Verbote die Oberin den Schülern auferlegt hat. Diese Situationen sind durchaus hilfreich bei der Erledigung ihrer Aufgaben. Durch eben diese Art gelangt sie beispielsweise an den Kellerschlüssel, dessen Zugang untersagt ist. Da Lilli aber den Auftrag hat, die Beete umzugraben, muss sie in den Keller, um die dort befindliche Schaufel zu holen. Denn noch wichtiger als die Regeln sind die Anweisungen der Oberin, die unbedingt befolgt werden müssen.

Lilli muss sich in die Behandlung von Doktor Marcel begeben. Seit seinem Unfall sitzt der Arzt im Rollstuhl und ist sehr verbittert. Seine Methoden sind absolut skrupellos und niederträchtig. Er versucht mit allen Mitteln, den Kindern ihre Kindlichkeit auszutreiben. Dazu hat er sich etwas ganz besonderes ausgedacht. Harvey war ursprünglich der Stoffhase von Edna und hat ihr beigestanden, als sie ihr Abenteuer in bestritten hat. Am Ufer eines Sees hat Doktor Marcel den Hasen in einem miserablen Zustand gefunden und diesen anschließend geflickt. Zudem hat er Harvey neue, rot glühende Augen spendiert. Den Hasen will er zu Therapiezwecken einsetzen. Die Kinder sollen von Harvey hypnotisiert und somit abgerichtet werden. Die neuen Augen sind dabei das passende Werkzeug. Die Arbeit mit Lilli erweist sich allerdings als äußerst schwierig. In ihrem Inneren sind alle Qualen vergraben und es brodelt vor lauter Zorn und Unsicherheit. Lilli flüchtet sich in eine Fantasiewelt, wo sie weiterhin ihre Freundin sucht und Aufgaben meistert. Stößt sie auf eine Grenze, muss sie versuchen, diese zu durchbrechen. Widersprüche helfen Lilli dabei, Regeln zu umgehen. In ihrer Fantasie führt sie Gespräche mit den Personen, die besagte Verbote ausgesprochen haben und diskutiert mit ihnen, bis sie sich in Widersprüche verwickeln und die Regeln gewissermaßen aufheben. Ohne Regeln gibt es keine Konsequenzen, also kann sie unbesorgt tun, was nötig ist, um die jeweilige Situation zu meistern. Der Stoffhase ist Lillis ständiger Begleiter auf ihrer abenteuerlichen Reise.

Wie von Meisterhand

Die Grafik ist in einem sehr verspielten Comic-Stil gehalten und besteht aus handgemalten Szenen. Jeder Schauplatz hat eine eigene Note und wirkt authentisch. Details wurden sorgsam eingearbeitet und wirkungsvoll platziert. Jede Figur unterscheidet sich in ihrem Aussehen. Die Charaktere wurden optisch sehr treffend ihrer Persönlichkeit angepasst. Während Lilli die Hände hinter dem Rücken verschränkt und kaum Mimik zeigt, besticht die Oberin mit zusammengezogenen Augenbrauen und geballten Fäusten. Selten hat man so eine boshafte Nonne gesehen. Die Animationen laufen flüssig ab. Zwischen wichtigen Abschnitten werden kurze Filmsequenzen eingeblendet, die die Geschichte vorantreiben.

Wer nicht hören will ...

Die Musik sollte man bei diesem Spiel nicht abstellen. Der Soundtrack ist zu Recht hochgelobt und deshalb auch als eigene CD in dem Spiel enthalten. Die melodischen Klänge verleihen dem Gesamtbild eine schöne Atmosphäre. Der Erzähler ist sehr passend gewählt, da seine Sprechweise wunderbar den manchmal trockenen und häufig schwarzen Humor vermittelt. Das Spiel ist komplett synchronisiert, wobei jeder Charakter eine eigene Stimme erhält. Zusätzlich werden die Gespräche in Textzeilen angegeben.

Mit "Harveys Neue Augen" ist den Machern ein schönes und vor allem spannendes Abenteuer gelungen. Die Rätsel sind lösbar, können allerdings auch richtiges Kopfzerbrechen bereiten. Spieler, die bereits mit Ednas Welt vertraut sind, können sich auf ein Wiedersehen mit vielen Bekannten freuen. Neueinsteiger brauchen sich nicht zu sorgen, dem Verlauf nicht folgen zu können, da das Spiel eine völlig neue und unabhängige Geschichte erzählt. Liebhaber des Adventure-Genres sollten sich "Harveys Neue Augen" nicht entgehen lassen, aber auch allen anderen Interessierten sei ein Blick ans Herz gelegt. Die skurrilen Szenen, der schwarze Humor und vor allem Lillis unverständliches Verhalten lassen den Spieler nicht mehr so schnell los.

(22.09.2011)

 

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