Scarface: The World Is Yours (Vivendi) geschrieben von Sebastian Schäfer
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Was wäre wenn? Eine prunkvolle Villa - Dutzende Männer stürmen schwer bewaffnet das Gebäude und postieren sich vor einer riesigen, doppelflügligen Tür. In einer gewaltigen Explosion zerbirst das Holz der Tür und Anthony Montana alias Al Pachino tritt mit einem Sturmgewehr mit Granatwerfer den Gangstermassen entgegen. Tony ist der Antiheld des Films "Scarface" von Brian de Palma, der ihn 1983 gedreht hat. In der Schlussszene des Streifens über den Aufstieg eines kubanischen Tellerwäschers zum Drogenmillionär stirbt Tony und sein Imperium bricht auseinander. Jemand, der den Film kennt und sich das Spiel zu Gemüte führen will, geht automatisch davon aus, dass er die Geschichte des Films nachspielt, aber weit gefehlt: Das Spiel "Scarface: The World Is Yours" beginnt genau mit der eben beschriebenen Szene, die, mit einer Ausnahme, wie im Film abläuft: Tony überlebt den Anschlag und schickt statt dessen die angreifenden Gangster zur Hölle. Scarface lebt ... Der Spieler übernimmt die Rolle von Tony Montana und versucht nach dem missglückten Anschlag auf sein Leben, das Scarface-Imperium wieder aufzubauen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Nachdem Tony aus seiner Villa geflohen ist, findet er sich in Miami wieder. Man hat ihm alles genommen - sein Geld, seine Autos, Boote, Geschäfte - und was viel schlimmer ist: seine Macht. Tony ist nur seine zerschossene Villa und sein Durst nach Rache geblieben. So macht er sich also auf den Weg, wieder von vorn zu beginnen, denn ohne Macht wird er sein Ziel nicht erreichen können. Der Spieler fühlt sich unweigerlich an "GTA: Vice City" erinnert. Genau wie im augenscheinlichen Vorbild erfüllt man Missionen, fährt im Auto oder Boot durch die Stadt und kauft oder verkauft Drogen. Das Szenario mag wie eine skrupellose Kopie klingen und an einigen Stellen mag das auch zutreffen, allerdings spielt sich "Scarface" auf den zweiten Blick doch etwas anders als Rockstars "GTA". Der Spieler startet seine Karriere im Stadtteil Little Havanna des detailverliebt nachgebildeten Miamis. Hier ist es erst einmal seine Aufgabe, diesen Bezirk zurückzuerobern, bevor weitere Teile der Stadt spielbar werden. So zieht Tony los und beginnt Kontakte zu Drogenlieferanten und Straßenhändlern aufzunehmen, um das Geld zu verdienen, das er braucht, um Miami "zurückzukaufen". Zunächst wählt der Spieler einen Kleinlieferanten aus und muss diesem vor Lieferung erst einmal einen kleinen Gefallen tun. Der Gefallen besteht meist in der Erledigung einer kleinen Mission wie "Töte den Informanten" oder "schalte die Gang an der Ecke aus". Nach Vollendung dieser Aufgabe darf Tony den Lieferanten besuchen und den Preis für das Koks aushandeln. Dies geschieht etwa so, wie man es vom Abschlagen bei einer Golfsimulation gewohnt ist. Der Spieler hält die Return-Taste gedrückt, ein Balken füllt sich und man muss die Taste loslassen, bevor ein bestimmtes Maß überschritten ist, um den niedrigsten Preis für das Kilo zu erzielen. Wird die Taste zu spät losgelassen, rutscht Tony eine Beleidigung heraus, der Lieferant greift beleidigt zur Waffe und möchte ihm ans Leder. Apropos Beleidigung - die Entwickler haben dem Spieler die Möglichkeit gegeben, über Gegner und andere Leute in bester Scarface-Art herzuziehen. Wenn zum Beispiel ein Passant überfahren wurde, wird einfach der Beleidigungsknopf gedrückt und Tony motzt beispielsweise "Toll, dass Du meinen Kühlergrill beschädigt hast, Trottel!". Rammt ein anderes Auto das eigene oder hat Scarface in einem Feuergefecht jemanden umgelegt, gibt er ähnlich bissige Kommentare zum Besten. Jedes Mal, wenn er jemanden beleidigt hat, erhält Tony einen Bonus auf seinen "Eier"-Wert. Hat man diese Anzeige gefüllt, kann man den "Wut"-Modus, aktivieren. Die Kameraperspektive wechselt dann in die Ego-Ansicht und man ist für kurze Zeit nahezu unverwundbar, so dass Tony auf diese Art ganze Heerscharen an Gegnern besiegen kann. Neben den Drogenkauf- und Verkaufmissionen gibt es natürlich auch noch Aufträge, die die Story weiter vorantreiben. Sie reichen von Eroberungsmissionen, in denen man bestimmte Gebäude in seinen Besitz bringen muss, bis hin zu Eskort- oder Hetzjagdmissionen, die den Spieler näher an die Drahtzieher des Attentats auf Tony bringen. Gelegentlich meldet sich sogar eine "femme fatale", die Tony sich natürlich gerne angeln möchte. Nach einem kurzen Gespräch mit ihr ist sie Wachs in seinen Händen und zieht auch schon bei ihm in die Villa ein. Nach und nach erhält der Spieler so die Macht über Vice City - äh, Miami wieder zurück und hat später sogar die Möglichkeit, seinen Erzfeinden wie dem verwegenen Sosa entgegenzutreten. Mehr sei an dieser Stelle von der klasse Story mit Ecken und Wendungen aber nicht verraten. Bedienung und Grafik In dieser Hinsicht merkt man dem Spiel leider seine Konsolenherkunft deutlich an. Die Basissteuerung der PS2-Version über zwei Sticks und vier Knöpfe ist leider eins zu eins für den PC umgesetzt worden. Mit den Pfeiltasten bewegt man Tony durch die Welt und mit der Maus sieht man sich um und zielt auf Gegner. Das ist an sich nichts Schlimmes, allerdings steuert man so auch Autos, Boote und Flugzeuge, sodass es immer wieder vorkommt, dass der Spieler versehentlich beim Autofahren an die Maus stößt und damit plötzlich kurz nicht mehr sieht, wohin er fährt. Die Grafik ist ebenfalls von der PS2-Version übernommen und hat deren Nachteile geerbt. Das Spiel besitzt allerdings für einen Nicht-Next-Gen-Titel immer noch eine akzeptable Detailfülle, wenn auch kleine Schönheitsfehler wie die typischen "blockigen" Hände oder die manchmal etwas merkwürdige Physik schon einmal vorkommen können. The Sound of the Eighties Bei der Vertonung des Nachfolgers von Brian de Palmas Meisterwerk hat Radical Entertainment ganze Arbeit geleistet. Selten hat es eine solche Riesenauswahl an Musiktiteln in einem Spiel gegeben. Die Entwickler haben extra für dieses Spiel den originalen Soundtrack des Films und darüber hinaus jede Menge anderer 80er-Jahre-Musiktitel lizenzieren lassen. Als wenn das noch nicht genug wäre, hat Radical niemand Geringeren als Skywalker-Sound für die Geräuschuntermalung und die Musikaufbereitung angeheuert. Der von Skywalker-Sound betriebene Aufwand bei der Vertonung steht dem von Kino-Blockbustern in nichts nach. Allein über 100 authentische und bekannte Musiktitel stehen dem Spieler zur Auswahl. Anders als bei Rockstars "GTA" muss der Spieler übrigens nach dem Aussteigen aus einem Auto nicht auf die stimmungsvolle Musik verzichten. "Scarface: The World is Yours trägt das Label "keine Jugendfreigabe - und das zu Recht. Das Konzept, ein Imperium auf Drogenschmuggel und -handel aufzubauen, gepaart mit der gelegentlich doch etwas zu deftigen Gewaltdarstellung ist nichts für die Zartbesaiteten unter uns. Wenn man sich aber mit solchen Titeln arrangieren kann, hat "Scarface" eine Menge zu bieten. Es ist ein gigantisches Spiel, das jeden, der sich damit befasst, in das Miami der 80er und die dunkle Welt des Tony Montana geradezu hineinzerrt. Solltet ihr ein Fan des Films gewesen sein, führt eigentlich kein Weg um dieses Spiel herum, denn beim Erkunden der uneingeschränkt offenen Welt spürt der eingefleischte Fan ein merkwürdiges Verlangen, die eine oder andere Kakerlake (im O-Ton des Films: "cock-a-roach) mit der im Spiel vorhandenen Kettensäge zu bearbeiten. Seid ihr nun vom Scarface-Fieber befallen, solltet ihr am besten zu eurem lokalen Softwaredealer gehen, euch dieses Meisterwerk an Filmfortsetzung besorgen und unterwegs in der Videothek noch den großartigen Film einsacken. (20.11.2006)
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