Boiling Point: Road to Hell

Boiling Point: Road to Hell

(Atari)

Geschrieben von Carlos Carvalho

 

Heutzutage ist alles viel komplizierter als früher, selbst für Bösewichte. Während man vor nicht allzu vielen Jahren einfach jede beliebige Person entführen konnte, um sie kurz danach umzubringen oder ein fettes Lösegeld zu kassieren, so sollte man im 21. Jahrhundert am besten ein ganzes Profil der zu entführenden Person erstellen lassen, inklusive Verwandten und engstem Freundeskreis. Genau das hat jemand bei Boiling Point verschlampt, als die Tochter unseres Helden entführt wurde. Dieser Ex-Soldat kocht nun vor Wut und wird sich das nicht gefallen lassen!

Story

Saul Myers, früheres Mitglied der Fremdenlegion, genießt seine Zeit als Reservist in Paris mit dem Hintergedanken, seine Tochter würde für irgendwelche lokalen Frauenzeitschriften Artikel wie "Wie werde ich einen Mann los in zehn Schritten" schreiben. Erst durch einen Anruf ihres Verlegers erfährt er die Wahrheit: Seine Tochter Lisa war schon überall auf der Welt, ihr eigentlicher Beruf sei der einer Kriegsreporterin. Als sie bei ihrem letzten Job in Südamerika ein paar Fragen zu viel stellte, wurde sie von einer feindlichen Gruppe entführt. Verdächtige gibt es genug in dem kleinen Land Realia, auch bei der Regierung, zu der die nutzlose Polizei und das Militär gehören, dessen Hände so dreckig sind wie die jedes Drogenbarons. Verschiedene kleinere Gruppen führen gegen die Regierung einen Guerillakrieg, unter anderem Adrenalinhändler und die kommunistischen Revolutionäre, die seit Jahren versuchen, die korrupte Staatsmacht zu stürzen. Besser ausgestattet ist die lokale Mafia, die ausschließlich aus reichen und für ihre Racheaktionen bekannten Drogenhändlern besteht. Wer für die Mafia zu schlecht ist, tritt in eine der vielen Banditengruppen ein. Ferner versuchen ein paar CIA-Agenten aus dem Schatten heraus, das Verhältnis dieser Gruppen zu beeinflussen, natürlich so, dass es dem amerikanischen Plan am besten passt. Schließlich bleiben noch die einheimischen Indios und die normale zivile Bevölkerung, die mit größter Mühe versucht, ein ruhiges Leben inmitten dieses inoffiziellen Krieges zu führen.

Als früheres, langjähriges Mitglied der Fremdenlegion und ausgebildeter Soldat ist Saul Myers für jede dieser Fraktionen eine begehrenswerte Figur. Von allen Gruppen bekommt man früh im Spiel in der Hauptstadt Puerto Sombra Einladungen, ein paar "Geschäfte" zu erledigen. Wie auch zu erwarten, wäscht eine symbolische Hand die andere und je mehr und schwierigere Jobs man erfolgreich absolviert, umso mehr Informationen und Ausstattung bekommt man von den jeweiligen Arbeitgebern. Der Spieler sollte jedoch nicht das eigentliche Ziel vergessen: Man ist nicht nach Südamerika gefahren, um ein Land von korrupten Politikern und Drogenbaronen zu retten, sondern seine Tochter lebendig von ihren Entführern zu befreien. In regelmäßigen Abständen wird Saul telefonisch von seiner Frau daran erinnert, er solle nicht nur die Sonne und die Tequilas genießen. Erste Informationen bekommt man vom Chef der Zeitung, für die Lisa gearbeitet hat, bzw. auch vom Bürgermeister, der scheinbar überall seine Finger im Spiel hat.

Gameplay

Deep Shadows wagt es bei Boiling Point, zwei altbekannte Genres zu verbinden: das eines Egoshooters und das eines Rollenspiels. Das Spiel ist nicht-linear gestaltet: Durch Missionen für die verschiedenen Gruppen, die absolviert werden können, wenn es dem Spieler am besten passt, kommt man weiter. Allerdings gibt es bei Boiling Point eine Bewertung des Beliebtheitsgrades bei den verschiedenen feindlichen Fraktionen. So kann es durchaus passieren, dass sich, wenn man zum Beispiel nur Missionen für die Drogenhändler erledigt, Polizei und Militär an eure Fersen heften. Andersherum, arbeitet man also beispielsweise mit der CIA zusammen, um die Adrenalinplantagen niederzubrennen, macht man sich schnell unbeliebt bei der Mafia, deren Schergen dann bei Sichtkontakt auf den Spieler schießen. Ein perfektes Gleichgewicht zu finden ist schwierig, aber dieses Konzept ist durchaus interessant. Während man 1998 bei dem Spiel "Xenocracy" des Entwicklers Simis Schwierigkeiten hatte, die Missionen so auszuwählen, dass kein Krieg zwischen den verschiedenen Fraktionen ausbrach, muss man sich bei Boiling Point eher um seine eigene Haut kümmern. Die Wahl der Mission erfolgt über ein Menü, in dem man zwischen Haupt- und Nebenmissionen wählen kann und, will man eine nicht erfüllen, diese löschen darf. Im Head-up-Display wird die Richtung und Entfernung bis zum Missionsziel angegeben, allerdings sind einige Aufgaben nur zu einer bestimmten Tageszeit zu erledigen.

Bei den modernen Egoshootern wird Realitätsnähe immer wichtiger. Boiling Point versucht, dieser Mode soweit nachzugehen, wie es spielerisch möglich ist. Ein Treffersystem, basierend auf der Einschussstelle, bringt den Feind - oder sich selbst - zum Humpeln wegen Beintreffern, ebenso verringern Treffer in den Armen die Treffsicherheit und Headshots wirken sich nach wie vor immer noch fatal auf das Ziel aus. Verwendet der Spieler stets dieselbe Waffe, so verbessert sich die Zielgenauigkeit mit dieser Waffengattung. Jedoch ist hier dennoch Abwechslung wichtig, denn die Handhabung vernachlässigter Waffen verschlechtert sich ebenfalls mit der Zeit. Zur Verfügung stehen Messer, leichte Pistolen, schnell schießende Maschinengewehre, Schrotflinten mit verheerender Wirkung im Nahkampf, archaische Armbrüste, zielgenaue Scharfschützengewehre und verschiedene Granaten.

Alle Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenstände, wie Richtmikrofon, Fernglas, Kamera oder heilende Medikamentenspritzen trägt man bei sich im Rucksack, der im Prinzip unendlich groß ist. Eine Begrenzung wird durch das Gewicht der mitgenommenen Rüstungsteile festgelegt, die während des Spiels mit Erhöhung der Spielerstärke heraufgesetzt wird. Die Belegung der Waffen auf den Tastaturenzahlen 1 bis 0 wird vom Spieler selbst bestimmt, ebenso die Reihenfolge, wie diese beim Drehen des Mausrads durchgeschaltet werden sollen. Das Schießen geht wie gewohnt mit der linken Maustaste, mit der rechten kann man genauer zielen, bzw., wenn man nah an einem Charakter ist, diesen ansprechen. Die Munition kommt in einzelnen Geschossen, somit kann der Spieler nach Belieben nachladen, statt auf das Ende von Magazinen warten zu müssen. Schusswesten können während des Spiels ebenfalls erbeutet und gekauft werden, die dann vom Spieler nach Belieben an- und ausgezogen werden können. Nähert man sich jedoch dem tragbaren Maximalgewicht, so bewegt sich Saul Myers deutlich langsamer.

Bei der enormen Spielkarte von etwa 25x25 km, die komplett am Anfang des Spiels geladen wird und somit keine Unterbrechungen zum Laden von neuen Umgebungen benötigt, möchte man ganz sicher nicht überall zu Fuß laufen müssen. Verschiedene Autos, LKWs und Geländewagen stehen dem Spieler gleich am Anfang für eine große Summe Geld zur Verfügung. Das Fahren von Booten, Panzern, Flugzeugen und Helikoptern erlernt man in bestimmten Missionen bzw. bei verschiedenen Charakteren während des Spiels. Somit wird eine enorme Vielfalt an Fahrzeugen angeboten, die man für die verschiedenen Missionen benutzen darf. Allerdings handelt es sich bei diesem Spiel nicht um Grand Theft Auto: Man kann nicht zum nächstbesten Wagen laufen, den Fahrer rauszerren und selbst losfahren. In den meisten Fällen muss man sich die nötigen Moneten herbeischaffen, um sich sein Wunschfahrzeug leisten zu können.

Um sich nicht auf dem Land zu verlaufen, wird mit dem Spiel eine touristische Karte der Region mitgeliefert, inklusive Notierung von Sehenswürdigkeiten, Hotels, Autovermietungen usw.Wer wenig Lust hat, selbst hin- und herfahren zu müssen, kann sich an verschiedenen Stellen ein Taxi mieten, das den Spieler bis zum gewünschten Punkt fährt. Die Bedienung der Fahrzeuge ist aber recht intuitiv und nach ein paar Runden um die Stadt beherrscht man die PKWs gut genug, um nicht andauernd gegen Bäume und Gebäude zu fahren. Je teurer das Fahrzeug in einer Klasse, umso leichter kann man es bedienen; in dem Sinne sollte man sich diesbezüglich nicht allzu geizig verhalten. Die Außensicht auf das fahrende Fahrzeug liegt leider zu nah dran, die Steuerung der einzelnen Wagen ist auch etwas realistischer als die von Grand Theft Auto, man kann also die PKWs nicht im gewohnt-lässigen Stil fahren.

Realismusstufe auf Maximum?

Fans von sehr realistischen Egoshootern werden sich über einige der eingebauten Ideen freuen, über andere eher weniger: An einigen Stellen übertreibt Deep Shadows, bzw. man wünscht sich manchmal, einen Regler für die Realismuseinstellungen zu haben. Als erstes bemerkt man die Ladehemmung der Waffen, die selbstverständlich in den schlimmsten Situationen vorkommt. Weiterhin muss sich Saul alle paar Stunden für eine Weile aufs Ohr legen, damit er sein volles Potenzial ausschöpfen kann. Dagegen wirkt manchmal der Rollenspielteil von Boiling Point etwas unrealistisch: Man kann Gespräche öfters wiederholen, bis man die "korrekten" Antworten gibt oder bekommt. Man kann im Spiel auch jede einzelne Person erschießen, ist diese aber für den weiteren Spielverlauf nötig, so wird sie nach kürzester Zeit "wiedergeboren". Wenn man selbst stirbt, wird man ebenfalls wiedergeboren, dafür befindet man sich dann im nahe liegenden Krankenhaus und verliert einige Ausrüstungsgegenstände. Ebenfalls ärgerlich ist die im Spiel eingebaute Begrenzung, Waffen in bestimmten Gebäuden nicht verwenden zu können. Die eigenmächtige Umbenennung von Kokain zu Adrenalin in einem Spiel, dessen Handlungsort ein mit Kolumbien vergleichbares Land darstellen soll, trägt nicht zu einer ernstzunehmenden Atmosphäre in Boiling Point bei.

Das Konzept der Verbesserung von Waffen wurde von Spielen wie Deus Ex übernommen: Es ist bei Boiling Point möglich, die Waffen unter anderem mit höherer Schussrate, kürzeren Nachladezeiten und größerer Reichweite auszustatten. Gekoppelt mit verschiedenen Munitionstypen wird man regelrecht zu einer Ein-Mann-Armee ausgerüstet. Die Umgebung ist, ebenfalls entsprechend anderer moderner Spiele, sehr interaktiv. Man kann Eimer, Kästen, Stühle und viele andere Gegenstände hochheben, verschieben, abschießen und werfen. Fahrzeuge verbrauchen Sprit und, sollte der Spieler doch zu oft gegen Bäume gefahren sein, bedürfen sie auch einer Reparatur, neuer Räder usw.Schließlich gibt es eine weitere interessante Eigenschaft dieses Spiels, die nochmals die Realitätsnähe unterstreicht: Die vorhandene Abhängigkeit von Drogen und Alkohol, die man beim Arzt wieder ausheilen kann. Allerdings kann der Spieler auch von Medikamenten abhängig werden und Entzugserscheinungen wirken sich durchaus negativ auf die Bewegungen des Spielers aus.

Die künstliche Intelligenz der verschiedenen Tiere (Fische, Vögel, Ratten, Hunde usw.) und die der normalen Zivilbevölkerung ist recht einfach gehalten. Diese bewegen sich in den meisten Fällen von Punkt A nach Punkt B. Stellt man sich ungünstig vor sie, so verhalten sie sich dümmer als Ameisen, die plötzlich um einen Stein laufen müssen. Die normalen Laufmuster der Bevölkerung sind leider unrealistisch gehalten, Passanten machen immer 90 Grad-Drehungen, auch wenn Diagonalen für sie günstiger wären. Fängt man allerdings an, auf sie zu schießen, so laufen sie so schnell wie möglich davon. Charaktere, die zurückschießen, sind dafür deutlich besser programmiert worden, diese verstecken sich, wenn sie nachladen und versuchen, um dem Spieler herumzulaufen und in günstigere Schusspositionen zu gelangen. Die NPCs führen ein aktives Leben in der Region Realia, d.h. während einige nur tagsüber auf der Straße anzutreffen sind, findet man sie abends an den Bartresen vor ein paar Tequilagläsern wieder.

Grafik

Auch bei der Grafik spielt Realismus eine wichtige Rolle. Deep Shadows investierte viel in realitätsnahe Charakter- und Gebäudetexturen. Sowohl Pflanzen als auch Fahrzeuge müssen sich für ihr Äußeres nicht schämen, dafür braucht man für dieses Spiel einen besseren Rechner, als man für Egoshooter wie zum Beispiel "Far Cry", die eine noch bessere Grafik anbieten, gebraucht hat. Speicher ist hierbei das Wichtigste: Obwohl in den 512 MB als Minimum angegeben wird, sollte man Boiling Point erst ab 1024 MB oder mehr spielen. Die Umgebung ist sehr tropisch gehalten, wegen des umgebenden Dschungels gibt es öfters Nebel; Wasseroberflächen sind semitransparent. Ein gut eingestellter Tag- und Nachtrhythmus schaltet Straßenlampen und Autolichter automatisch an. Die Waffen und Fahrzeuge sehen durchaus realistisch aus, die anderen Charaktere, solange sie nicht reden, ebenfalls. Mit offenen Mündern scheint man in der Spielwelt noch Probleme zu haben, die Umsetzung bei Boiling Point enttäuscht, während sonstige Gesichtsausdrücke durchaus gelungen sind.

Sound

Die Musik vom Spiel überzeugt bereits bei der Installation (diese kann man übrigens ebenfalls auf der Hauptseite des Spiels hören). In Boiling Point selbst reduziert man bloß die Lautstärke, die Musik ist sonst passend zum Spielverhalten. Die Umgebungsgeräusche, seien es vorbeifahrende Autos oder reine Naturgeräusche vom Dschungel, machen einiges der Atmosphäre des Spiels aus. Die Stimmen der angesprochenen Charaktere sind meist gut gewählt. Schuss- und Explosionsgeräusche wirken durchaus echt und, erfolgt eine Explosion in der Nähe des Spielers, so bekommt man einen Tinnitus-Ton zu hören.

Bugs und Patches

Wenige Tage nach Erscheinen des Spiels brachte Deep Shadows den ersten, 70 MB großen, Patch auf Version 1.1 raus. Korrigiert wurden Bugs von Gegenständen im Gepäck, verschiedene Sound- und Animationsfehler, Abstürze beim Laden und Speichern von größeren Dateien und diverse Fehler in Sachen Fahrzeuge. Seit dem 20. Juni arbeitet Deep Shadows am Patch 2.0, der verschiedene Verbesserungen in das Spiel reinbringen soll, wie z.B. eine bessere KI der zivilen Bevölkerung oder eine angemessenere Fahrzeugdynamik. Leider findet man im Spiel noch viele Bugs, die zwar ein Weiterspielen nicht verhindern, aber durchaus störend wirken. Die seit 1998 entwickelte Vital Engine scheint die meisten Schwierigkeiten mit dem Sound zu haben, so erklingen zum Beispiel Stimmen immer leiser als Umgebungsgeräusche, wenn sie überhaupt abgespielt werden. Das Clipping-Modell von Boiling Point besitzt auch ein paar Schwachstellen, öfters sieht man jemanden in der Luft spazieren.

  

Fazit

Deep Shadows hat sich mit Boiling Point: Road to Hell ein gutes Konzept ausgedacht. Dieses Spiel soll durch den Rollenspielanteil, die hohe Interaktivität mit der Umgebung und die verschiedenen Fraktionen den Spieler soweit wie möglich in den Charakter hineinversetzen. Leider ist die Umsetzung nicht perfekt gelungen. Die künstliche Intelligenz lässt an verschiedenen Stellen zu wünschen übrig und die Handhabung von Fahrzeugen ist vielleicht zu realistisch gestaltet, was das Spielen erschwert. Am fatalsten sind jedoch die hohen Systemansprüche des Spiels, gekoppelt mit den vielen noch vorhandenen Bugs. Nichtsdestotrotz: Diejenigen, die sich seit Längerem einen nichtlinearen Egoshooter wünschen, finden in Boiling Point genau das Richtige für ihren Geschmack.

(06.07.2005)

Entwickler: Deep Shadows
Publisher: Atari
Genre: 3D Action RPG
Releasedate: bereits erhältlich
Homepage: Boiling Point: Road to Hell
Preis: 49,99 €
Altersfreigabe: Freigegeben ab 16 Jahren gemäß §14 JuSchG

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