Great Invasions

Great Invasions

(Nobilis)

geschrieben von Hans Thiel

 

Das Mittelalter. Diese geschichtliche Periode mit allen Ungereimtheiten, falschen Tatsachen und ungeheuerlichen Vorfällen übt seit jeher eine gewisse Faszination auf die meisten Europäer aus. "Great Invasions" will diese Epoche in ihrer Komplexität und Vielseitigkeit erleb- und spielbar machen, ohne dabei die historischen Fakten zu vernachlässigen.

Das "finstere" Zeitalter

Im Mittelalter tummelten sich dutzende Völker und Gruppierungen auf der Bühne der Geschichte, sie entwickelten sich, kämpften um Land und Macht, eroberten und wurden erobert. Nur die wenigsten konnten sich behaupten, die Völker durchmischten sich, religiöse und machtpolitische Zerwürfnisse schufen neue Gruppierungen und zerstörten andere. Kurzum, es war ein ziemliches Durcheinander. Philippe Thibaut, der Entwickler von "Great Invasions", hat sich zum Ziel gesetzt, diese Ereignisse in all ihren Facetten in ein Spiel einfließen zu lassen, mit weitreichenden Möglichkeiten in der Steuerung von Politik, Wirtschaft und Religion. Im Spiel wird der Zeitraum von 350 bis 1066 nach Christus abgebildet. In Zusammenarbeit mit mehreren Historikern wurden ca. 150 bedeutende Ereignisse dieser Epoche in das Spiel eingefügt, die das Spielgeschehen beeinflussen, teils in Abhängigkeit von den Aktionen des Spielers.

Da nur wenige Gruppierungen über die gesamte Epoche des Spiels vorhanden oder von Bedeutung waren, gibt es die Möglichkeit, mehrere Völker gleichzeitig zu steuern, im halb-historischen und im fiktiven Spielmodus hat der Spieler die Möglichkeit, diese aus über 80 Parteien zu wählen. Dabei kommt ein Versteigerungssystem zum Einsatz, der Spieler bietet für das zur Auswahl stehende Volk, der Gegner, sei es nur Computer oder ein anderer menschlicher Spieler im LAN, tut das gleiche. Der Meistbietende erhält die Kontrolle über das Volk und kann nun auch dessen Geschicke lenken.

Planwirtschaft

Strategen benötigen keine grafischen Spielereien, sondern klare und präzise Informationen, mit denen sich schnell die Gesamtsituation erfassen lässt. Ein Augenschmaus ist "Great Invasions" mit Sicherheit nicht. Die gesamte Aufmachung orientiert sich mehr an einem klassischen Brettspiel, mit der Einschränkung, dass die Möglichkeit fehlt, bei Platzmangel auf einen größeren Tisch ausweichen zu können. "Great Invasions" fehlen allerdings die Strategien, mit der Informationsflut umzugehen und diese mit einer intuitiven Steuerung für den Spieler handhabbar zu machen. Es sind vor allem Kleinigkeiten, die stören: Die fein unterteilte Karte Europas, samt der Küstenlinie Afrikas sowie dem Vorderen Orient, lässt sich zum Beispiel nur stationär zoomen - eine Möglichkeit, gezielt zu einer unter dem Mauszeiger befindlichen Stelle zu zoomen fehlt, so muss mühselig in der großen Karte herumgescrollt werden, bis die gewünschte Stelle erreicht ist. Sicher, das fördert ungemein den Orientierungssinn und das geografische Gedächtnis, im Spielfluss ist es eher hinderlich. Bewegungen von Einheiten werden durch gepunktete Linien, die im Zielgebiet enden, dargestellt. Die zurückgelegte Entfernung wird durch eine teilweise Verfärbung dieser Linie dargestellt, die Symbole der Einheiten verbleiben jedoch am Ausgangsort, ein schneller Überblick, welche Einheit sich gerade auf dem Weg befindet, ist leider nicht möglich. Dazu kommt, dass die Symbole der Einheiten in den Kartenabschnitten gestapelt werden, sichtbar ist immer nur eine Einheit - zumindest aber nach Land- und Seeeinheiten getrennt. Soll eine bestimmte Einheit auf den Weg geschickt werden, gilt es, den Stapel vorhandener Einheiten zu durchsuchen, bis die Passende gefunden ist. Diese kann dann eben in einen anderen Kartenabschnitt geschickt werden, verbleibt, wie erwähnt, aber bis zur tatsächlichen Ankunft im Zielgebiet im Ausgangsstapel. Verwirrend? Dann hilft nur in einen anderen Kartenmodus schalten, dann wird das Elend gleich ausgeblendet.

Um eine Steuerung der verschiedenen Aspekte des Spiels - Militär, Wirtschaft, Diplomatie und Religion - zu ermöglichen, gibt es Umschalter, die für den gewählten Modus wichtige Einheiten, Informationen und Infrastruktur ein- oder ausblenden. In jedem dieser vier Modi kann die auf der Karte angezeigte Information nochmals gewechselt werden. So gibt es im Militärmodus eine Kartenansicht der politischen Kontrolle über die Gebiete, eine der tatsächlichen Geländebeschaffenheit und eine Darstellung des "Zermürbungsrisikos" - einem Malus, dem auf diesem Gebiet stationierte Einheiten ausgesetzt sind. Der Diplomatie-Modus hingegen bietet zum Beispiel Ansichten nach Allianzen und Beziehungen zwischen den Völkern und auch eine Übersicht der politischen Zuständigkeiten. Je nach gewähltem Modus unterscheiden sich zudem die in der unteren Menüzeile dargestellten Informationen, teilweise sind dort auch noch weitere Untergruppen und Strukturen zu finden.

Der Schwerpunkt des Spiels liegt ohne Zweifel auf dem Militärteil. Technologiebäume und Erfindungen wurden nicht implementiert, der Wirtschaftsteil ist recht eingeschränkt, Handel und Produktion laufen im Hintergrund mehr oder minder automatisch ab. Das Regelwerk des Spiels ist sehr umfangreich, jedes Ereignis bringt oder kostet Punkte, an denen zum Ende des Spiels, Sieg oder Niederlage festgemacht wird. Religion und Diplomatie stützen das militärische Vorgehen, können aber auch bei der Expansion hinderlich sein, so können sich religiöse Unterströmungen bilden, die zu Aufständen, Unruhen und Zerstörungen führen können. Vieles im Spiel basiert auf Punkten oder anderen Ersatzwährungen, mit denen bestimmte Aktionen bezahlt werden müssen. Historische Ereignisse bringen oder kosten Siegpunkte, je nach Aktionen des Spielers, mit Bonuskarten kann das Kampfgeschehen oder die Situation in den Provinzen beeinflusst werden, überall wimmelt es von Zusatzelementen, Nebenbedingungen, Angriffs- und Verteidigungsboni und ähnlichen Sachen. Diese sollten möglichst alle in die strategische Planung einbezogen werden und fordern ein gutes Maß an Konzentration. Die Zeit kann stufenlos reguliert werden, zum sorgfältigen Lesen von Berichten oder Diplomatieanfragen empfiehlt es sich, das Spiel zu pausieren, sonst kann es durchaus vorkommen, dass neue Fenster das alte überlappen oder im Hintergrund aufklappen und übersehen werden. Hier besteht noch eines der größten Probleme des Spiels - bei zu hoher Spielgeschwindigkeit tauchen manche Nachrichten erst gar nicht mehr auf, Handels- oder Friedensangebote, die eigentlich noch bestätigt werden sollten, verschwinden urplötzlich und von Zeit zu Zeit verabschiedet sich das Spiel gänzlich. Regelmäßiges Speichern ist also von Vorteil.

"Great Invasions" fordert die Spieler und Fans geradezu heraus, Erweiterungen für das Spiel zu fertigen. Viele Spieleigenschaften können editiert und den eigenen Vorstellungen angepasst werden, die meisten Parameter, gerade, was die Szenarios betrifft, liegen in Textform vor und laden den Kundigen zum Ausprobieren ein. Wer einmal einen Blick auf diese Strukturen geworfen hat, dem wird noch deutlicher, welche Komplexität hinter der Spiellogik steckt und wie unzureichend diese Abstraktion vom Spieler fern gehalten wurde. Für Enthusiasten, die lange Zahlenkolonnen und kryptische Bezeichnungen nicht scheuen aber sicher ein Grund mehr, sich eingehender mit dem Spiel zu beschäftigen. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Spielgrafiken, die unverschlüsselt im Spielverzeichnis abgelegt, förmlich auf Bearbeitung warten. Die Spielentwickler scheinen regelmäßig Updates zu veröffentlichen, in denen auch auf Ideen und Problemberichte der Spieler eingegangen wird, ob sich dies auch für die in Deutschland erschienene Version bewahrheitet, muss sich erst zeigen. Zumindest ist es ratsam, den Kontakt zur "Great Invasions"-Fangemeinde zu suchen, wo sonst bietet sich die Gelegenheit, eventuell auch mit den Entwicklern selbst zu sprechen?

Grafik

Die Art der grafischen Umsetzung von "Great Invasions" ist im Hinblick auf die darzustellenden Informationen zwar nachvollziehbar, gewinnt aber keine Schönheitspreise. Die Karte, das Spielinterface und viele der grafischen Elemente haben den Charme von Handzeichnungen und sind vom Stil her dem Spielzeitraum angemessen, die kleinen 3D-Animationen und Figuren wirken da seltsam deplatziert, sind zudem auch nicht besonders ansehnlich. Eine konsistente Umsetzung auf Basis von Zeichnungen im Stile der Zeit hätte viel zur Spielatmosphäre beigetragen, zumal die meisten Animationen ohnehin keine zusätzlichen Informationen bereitstellen, sondern lediglich gewisse Vorgänge illustrieren. So wird zum Beispiel der Kampf zweier Armeen als Duell zweier Kämpfer dargestellt, die immer gleiche Bewegungsabläufe durchführen, der eigentliche Fortgang des Kampfgeschehens wird durch eine Balkengrafik dargestellt, in der sich die Waagschale einer bestimmten Partei zuwendet.

"Great Invasions" überrollt den Spieler förmlich mit seiner Komplexität und schafft es nicht, diese schnell und intuitiv erfassbar aufzubereiten. Der Steuerungsbildschirm des Palastes bietet Automatisierungsmöglichkeiten für einzelne Spielaufgaben und sage und schreibe 32 verschiedene Übersichten und Detailauflistungen der verschiedensten Aspekte des kontrollierten Reiches. Leider alles mit dem Charme einer Steuererklärung. Der Durchschnittsspieler kapituliert schlichtweg angesichts der Fülle an Möglichkeiten. Wohin das Auge fällt, Listen, Detailangaben, Punktekonten, Statistiken. Den detailversessenen Strategen mag es freuen, ein flüssiges Spielgeschehen sieht anders aus. All diese Angaben sind zum Verständnis des Spiels allerdings unerlässlich, eigenartigerweise wurde nichtsdestotrotz das deutsche Handbuch radikal zusammengestrichen, es kommt im Vergleich zum Beta-Handbuch, welches sich ebenfalls noch auf der CD befindet, auf knapp 30 A5-Textseiten, im Gegensatz zu den mehr als 100 A4-Seiten Text und Grafik des englischsprachigen Beta-Handbuchs. Zusätzlich finden sich auch noch Auflistungen der einzelnen Einheiten, Völker und andere spielrelevante Statistiken auf der CD, die sich in gedruckter Form sicher auch gut gemacht hätten. Warum gerade an dieser Stelle gespart wurde, bleibt wohl Geheimnis des Publishers. Wer des Englischen mächtig ist, sollte für das grundlegende Spielverständnis die Informationen auf der CD zurate ziehen, auch wenn sich teilweise einige Spielelemente und Punkteverteilungen geändert haben.

Sound

Einfach, spartanisch, im Grunde nicht der Rede wert. Auch beim Sound gibt es noch einige Probleme, die aber die Spielfunktion nicht beeinträchtigen. So werden teilweise gewisse Ereignisgeräusche nicht abgespielt oder abrupt von überlagernden Geräuschen abgebrochen. Hintergrundmusik ist vorhanden, beginnt in ihrer Eintönigkeit aber recht schnell nervig zu werden.

"Great Invasions" ist kein einfaches Spiel und gewiss keines für zwischendurch. Der Anspruch, möglichst historisch korrekt zu bleiben und den gewählten Zeitraum auch noch spielbar zu machen, resultiert in einer Fülle von Informationen und Regeln, die mit der grafischen Umsetzung und Steuerung nur unzureichend gebändigt wurden. Anfängern fällt der Einstieg sehr schwer, auch gestandene Strategen benötigen durchaus einige Zeit, um sich mit dem Spiel vertraut zu machen - nur bringen diese wahrscheinlich auch die nötige Geduld dazu mit. "Great Invasions" ist kein schlechtes Spiel, eher etwas von Liebhabern für Liebhaber. Strategie-Fans, die das Studium des umfangreichen Zusatzmaterials und die spröde Steuerung nicht scheuen, werden aber mit Sicherheit an diesem Spiel ihren Spaß haben.

(17.11.2005)

Entwickler: Philippe Thibaut
Publisher: Nobilis
Genre: Strategie
Releasedate: Bereits erschienen
Homepage: Great Invasions
Preis: 39,95 EUR
Altersfreigabe: Freigegeben ab 6 Jahren gemäß §14 JuSchG

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